Auf einen Kaffee mit

 

Enis Turan – Performer und Choreograf

 

Der gebürtige Istanbuler Enis Turan studierte unter anderem zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und der Iceland Academy of the Arts.

Enis war bereits in bekannten Spielorten wie dem HAU Berlin, dem Tanzhaus NRW, dem Schauspielhaus Leipzig, der fabrik Potsdam, den Münchner Kammerspielen, bei Kampnagel in Hamburg sowie Häusern im Ausland zu sehen.

Wir haben uns mit Enis über Lebensumbrüche, Sinnkrisen und über die schwere Entscheidungsfrage „Pizza oder Kuchen“ unterhalten.

Foto 1: Enis Turan, Produktion: ESTHER, Fotograf*in: Jonas Zeidler
Foto 2: Enis Turan, Produktion: Club27, Fotograf*in: Marcos Angeloni
Foto 3: Enis Turan, Produktion: Beauty & the Beast, Fotograf*in: Marcos Angeloni
Foto 4: Enis Turan, Produktion: Melancholia, Fotograf*in: Simone Scardovelli

Sebastian:
Wo kommst du gerade her?

 

Enis:
Vom Bioladen um die Ecke.

 

Sebastian:
Was sind deine drei Karaoke-Top-Songs?

 

Enis:
The Next Right Thing von Frozen 2, I Want to Break Free von Queen, und Crazy Little Thing Called Love, auch von Queen.

 

Sebastian:
Deine fünf zuletzt genutzten Emojis?

 

Enis:
😘   🥰     🥵     🤤     🤔

 

Sebastian:
Was wolltest du als Kind beruflich werden?

 

Enis:
Also mein allererster Berufswunsch, an den ich mich selbst zwar nicht aktiv erinnere, aber von dem mir meine Eltern oft erzählt haben, ist, dass ich LKW-Fahrer oder Baggerfahrer sein wollte. Das habe ich scheinbar sehr oft und klar ausgedrückt, bis ich dann auch tatsächlich einen Bagger als Spielzeug bekam und sehr happy damit war.

 

Sebastian:
Beim Baggerfahrer-Wunsch ist es ja schlussendlich nicht geblieben…

 

Enis:
Nein, dabei ist es nicht geblieben. Vom Baggerfahrer hat sich mein Berufswunsch irgendwann dann in der Jugend dahingehend geändert, dass ich Pilot sein wollte. Also immer noch im Verkehr. Heute arbeite ich als selbständiger Tänzer und Choreograf.

 

Sebastian:
Du hast zuvor Luft- und Raumfahrttechnik studiert. Was hat dich dazu bewegt, dann noch mal diesen eher ungewöhnlichen Schritt in Richtung Tanz zu gehen?

 

Enis:
Zum einen spielte meine Unzufriedenheit mit dem Studium an der TU Berlin eine Rolle. Dass ich nicht ganz glücklich war mit dem Studium an sich. Ich hatte keine Schwierigkeiten mit den Studieninhalten, aber es hat mich auch nicht so angeregt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich habe das Studium dann erstmal auf Eis gelegt. In dieser Zeit habe ich dann viele Sachen ausprobiert, ich war auf der Suche.

Ich hatte Tanzen, Tanzkunst und zeitgenössischen Tanz überhaupt nicht auf dem Schirm und habe auch nie eine Vorstellung besucht. Ich habe auch früher nicht getanzt. In dieser Zeit war ich dann Teil eines Master-Abschlussprojektes meiner damaligen Mitbewohnerin. Sie hat Theaterpädagogik an der UdK studiert und hat ihr Abschlussprojekt mit Laien gemacht, da habe ich dann mitgemacht. Sie sagte mir, dass ich eine gute Bühnenpräsenz hätte und dass ich doch tanzen solle… und das war dann tatsächlich der Samen, der in mir gelegt wurde.
Das Erste, was ich zu ihr sagte, war: „Ich bin zu alt, keine Schule wird mich nehmen.“ Zu dem Zeitpunkt war ich 21 Jahre.  Weil ich aber einfach Freunde am Tanzen hatte, zum Beispiel in Clubs, habe ich dann mit dem Tanztraining begonnen, um zu gucken, ob mir das Spaß macht. Und auch um zu schauen, wie viel Potential in mir steckt. Und dann, dann war das alles relativ schnell klar für mich.

 

Sebastian:
Auf deinem Instagram-Profil steht unter anderem Choreograf und Performer. Würdest du das selbst als Berufung oder Beruf beschreiben?

 

Enis:
Also es ist auf jeden Fall ein Beruf (lacht). Ich habe auf jeden Fall eine Leidenschaft und auch eine Überzeugung; und eine Motivation. Aber darüber hinaus hat es für mich jetzt keinen übergeordneten Sinn.

 

Sebastian:
Wie sieht denn so ein typischer Tagesablauf bei dir aus, wenn es denn einen solchen gibt?

 

Enis:
Also einen typischen Tagesablauf gibt es tatsächlich nicht. Die einzige Konstante, die ich habe, ist, dass ich irgendwann aufwache, was zu unregelmäßigen Zeiten passiert. Während des Tages esse ich irgendwann etwas, was auch zu sehr unregelmäßigen Zeiten passiert. Darüber hinaus verbringe ich sehr viel Zeit in Zügen. Ich bin also viel unterwegs auf Dienstreisen, in Theaterräumen und Studios. Meine Arbeitsräume sind häufig leere Studios ohne Fenster. Ich bekomme von Tageslicht und Wetter während meiner Arbeitszeit so gut wie gar nichts mit.

Meine Arbeitszeiten sind sehr unregelmäßig. Manchmal Nine to Five. Manchmal aber auch von 12 Uhr bis 20 Uhr oder 17 bis 22 Uhr. Ich arbeite mit unterschiedlichen Teams zusammen. Da habe ich auch keine Konstante.

 

Sebastian:
Deine Tagesabläufe sind also immer pro Projekt unterschiedlich?

 

Enis:
Pro Projekt treffe ich auf unterschiedliche Teams und Orte. Und abhängig davon, in welcher Produktionsphase wir sind, passen sich die Arbeitszeiten dann auch an.

 

Sebastian:
Hast du Rituale vor, während oder nach der Arbeit?

 

Enis:
Ich hatte bisher keine Rituale… bis jetzt! Dieses Jahr habe ich tatsächlich damit begonnen: Beim Probenbeginn meditiere ich beispielsweise immer 15 Minuten. Und nach jeder abgeschlossenen Produktionspremiere mache ich einen Tag Wellness in einer Therme, einen ganzen Tag Wellness!

 

Sebastian:
Ganztägig! Wow!

 

Enis:
Nicht 4 Stunden, 2 Stunden. Ganztägig, ja!

 

Sebastian:
Was sind Hauptthemen, mit denen du dich in deiner künstlerischen und choreografischen Arbeit auseinandersetzt?

 

Enis:
In meiner Arbeit als Performer versuche ich mit meinem Körper und mit meinem Geist den Diskurs bzw. die Vision, die die künstlerische Leitung und Choreograf*in antreibt, weiterzubringen.

In der Zusammenarbeit ist mir dabei wichtig, dass die Perspektive im Zeitraum der Produktion nicht aus den Augen verloren wird… Wie das Publikum die Arbeit dann am Ende erleben wird.

Mir ist außerdem Inklusivität bzw. die Awareness dafür sehr wichtig. In meiner letzten Produktion, in denen ich engagiert war, gab es zum Beispiel eine Szene, in der wir durch KI generierte Körperbilder projiziert haben. Für mich waren die Körperbilder sehr normativ, “able-bodied”, sozusagen. Genauso wie das Setting insgesamt einer elitären Klasse entsprach; so „Rich-Kids-mäßig”. Mir war wichtig, sich während der Produktion Fragen zu stellen: Sind wir uns über alles hier bewusst? Ist das eine bewusste Entscheidung, dass wir diese Körper darstellen?

Und in meiner eigenen Arbeit, da arbeite ich sehr stark mit popkulturellen Referenzen; mit Übertreibungen, mit Kitsch. Und habe besonderes Interesse daran, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen, oder sie umzudeuten, Normen aller Art.

 

Sebastian:
An popkulturelle Referenzen und Übertreibungen anknüpfend: Gib mir einen Satz zu Lady Gaga.

 

Enis:
Sehr schlaue Inszenierungen, würde ich sagen.

Sebastian:
Einen Satz zu Marina Abramović.

 

Enis:
(Lacht.) Inzwischen outdated.

 

Sebastian:
Und einen Satz zu Amy Winehouse.

 

Enis:
Eine der für mich stärksten oder pursten Künstlerinnen.

 

Sebastian:
Wie näherst Du dich als Performer oder Choreograf einem bestimmten Thema an? Gehst Du bei der Recherche auf eine bestimmte Art und Weise vor?

 

Enis:
Das variiert sehr stark von Projekt zu Projekt. Bei den Stücken, die ich selbst kreiere, nehme ich meine Inspiration von allem, was mich umgibt; auch von meinem Privatleben. Meine Stücke sind nicht biografisch, aber natürlich muss die Inspiration ja irgendwo herkommen (lacht). Und wenn mich irgendein Thema interessiert, dann lese ich natürlich dazu. Ich schaue mir außerdem sehr oft Filme an. Einen großen Teil macht auf jeden Fall immer eine visuelle Recherche aus. Insgesamt gibt es also einen sehr langen Prozess, innerhalb dessen ich mich gedanklich mit der Thematik beschäftige. Solange, bis dann in mir selbst ein Gedanke gereift ist und ich sagen kann: “In Ordnung, das will ich sagen”. Allerdings ist das nicht „die Wahrheit“. Es geht nicht um die absolute Wahrheit. Es geht einfach nur um die Ansicht, die ich zu einem bestimmten Thema mitzuteilen habe.

Ich sehe Kunst als eine Sprache, die wie jede andere Fremdsprache gelernt werden kann. Zu lesen, zu schreiben, in der Sprache zu sprechen. Kunst schaffen ist für mich eigentlich am Ende des Tages eine Art von Philosophieren. Wo ich mir erstmal Gedanken machen muss, was ich sagen will. Und wenn ich die Gedanken beisammenhabe, kann ich diese in meiner Kunstsprache, sprich Tanz und Choreografie, zum Ausdruck bringen. Wenn ich dann an dem Punkt bin, an dem ich ins Studio gehe und ein Stück mache, habe ich meistens schon eine sehr klare Vision davon, was ich wie machen will. Die Produktionszeiten sind dann sehr kurz.

 

Sebastian:
Themenschwenk: Jeder kennt Up- und Down-Phasen aus seinem eigenen Leben. Inwieweit beeinflusst dich dein mentaler Zustand ganz besonders in deiner Arbeit?

 

Enis:
Ich komme, wie viele andere Künstler*innen vermutlich auch, wiederkehrend in Spiralen des Zweifels. Wo ich zum einen den Sinn hinterfrage. Das passiert häufig im Zusammenhang mit politisch-gesellschaftlichen Situationen… Eine Krise hatte ich zum Beispiel während der Corona-Pandemie, als der Lockdown kam. Theater wurden in dieser Zeit sehr radikal und sehr schnell geschlossen. Die ganze Branche wurde inklusive der Künstler*innen als “systemirrelevant” betitelt. Das fand ich sehr unsensibel… Also dieser Ausdruck: „systemirrelevant“. Das hat mich tatsächlich in eine Krise katapultiert.

Ein anderes aktuelles Beispiel ist die kulturell-politische Entwicklung in Bezug auf den Palästina-Israel-Konflikt. In der freien zeitgenössischen Tanzszene fand mindestens über die letzten fünf Jahre ein sehr starker Diskurs statt. Über diverse -ismen, also Rassismus, Kolonialismus, Care Policies und so weiter. Das wurde von vielen Institutionen und auch von vielen Projekten bearbeitet. Es gab viele Diskurse und Räume für den Austausch. In den letzten Wochen hat sich für mich allerdings gezeigt: Okay, dieser ganze Diskurs, den wir getrieben haben, war irgendwie sehr illusorisch. Er hat im Grunde nichts bewegt.

Was mich darüber hinaus insgesamt manchmal zweifeln lässt, weiter Kunst zu machen, ist, dass Kunst am Ende für eine sehr elitäre Klasse gemacht wird. Sie erreicht kein großes Publikum. Keine breitere Gesellschaft. Es fehlt immer noch an sehr vielen Formaten. Publikum und Laienpublikum überhaupt an diese Kunstsprache heranzuführen bzw. einen Schlüssel an die Hand zu geben. Diese Sprache grundsätzlich lesen zu lernen und auch weiter daran Spaß zu finden.

 

Sebastian:
In der bildenden bzw. zeitgenössischen Kunst ist eine Methode der Annäherung, sich sehr viel anzuschauen und dadurch zu „lernen“, das Kunstwerk einzuordnen. Wie ist das in der Darstellenden Kunst?

 

Enis:
Das kann man auf jeden Fall lernen, denke ich. Zum einen: Jede Künstler*in hat sicherlich ihre eigene Sprache, ihre eigene Ästhetik und Didaktik und so weiter. Ich vergleiche das sehr oft mit Büchern und Autor*innen. Ich kann lesen, aber das heißt nicht, dass ich jedes Buch lesen werde. Bestimmte Autor*innen und ihre Sprache, ihre Didaktik und ihre Themen, die sie in ihren Büchern behandeln, sprechen mich an. Ich verfolge dann, was sie machen und kaufe dann das nächste Buch. Bei manchen Büchern ist es aber so, dass ich sie in die Hand nehme und nach 20 Seiten merke „okay, das ist jetzt gerade nicht das richtige Buch für mich” und lege es dann zur Seite. Und so ähnlich ist es auch mit der Performancekunst: Da hilft es sehr, viel auszuprobieren und zu schauen, wessen Stücke einen anregen. Durch das beständige Anschauen entwickelt der Mensch, das ist meine Überzeugung und auch meine eigene Erfahrung, ein immer schärferes Gespür. Für die Schichten, die in einem Werk stecken. Früher oder später wird man selbst dann ein System entwickelt haben, um zu erkennen, was Hand und Fuß hat, was zum Beispiel progressiv ist.

 

Sebastian:
Das war jetzt sehr intensiv. Gehen wir mal ein bisschen in leichtere Sphären. Und zwar damit: Katze oder Hund?

 

Enis:
(Lacht) Hund. Ja, sehr offensichtlich (schaut seinen Hund an).

 

Sebastian:
Das Ei: Hart, mittel oder weich?

 

Enis:
Das Weiße hart. Das Gelbe weich.

 

Sebastian:
Lamborghini oder Maybach?

 

Enis:
Maybach? Ist das ein Auto? Ich weiß gar nicht, was das ist. Dann Maybach, wahrscheinlich. Beziehungsweise Fahrrad.

 

Sebastian:
Dein Lieblings-Kulturort?

 

Enis:
Lass mich mal kurz überlegen. Ja, ich habe einen: Fabrik Potsdam…

 

Sebastian:
Drei Insta-Accounts, denen du folgst oder die dich inspirieren?

 

Enis:
Ja, also. Wie heißt der Account nochmal? „sveamaus“ (lacht)? Ich habe sie sogar mal live gesehen in Berlin. Fand ich sehr lustig. Dann „freeze_magazine„. Ich finde die Meme-Kunst von Cem A. sehr stark. Politisch, kritisch, schlau und humorvoll zugleich, wie er mit nur wenigen Worten und Bildern in einem Quadrat, die Kunstwelt und Institutionen bloßstellt. Und dann? „somatic_based_content_“.

 

Sebastian:
Wo können wir dich demnächst sehen?

 

Enis:
Am 24. Oktober in Gent mit Vanilla von Sophie Guisset. Und am 27. November auf Kampnagel Hamburg mit Disparade Families von Josep Caballero Garcia.

 

Sebastian:
Die wichtigste Frage zum Schluss: ein Slice Pizza oder Kuchen?

 

Enis:
Pizza oder Kuchen… Kuchen!